Minutenpsychologie

Wussten Sie eigentlich …

… dass es bis weit ins 19. Jahrhundert für Frau und Mann der gehobenen gesellschaftlichen Schichten in der Öffentlichkeit üblich war, sich mit „Sie“ anzureden? Und auch die Kinder hatten ihre Eltern zu siezen. „Sie“ oder „Du“ markierten lange Zeit Standesunterschiede.

„Duz“-Kultur statt antiquierter, spießiger „Sie“-Bürokratie?

Die heutige Welt ist nicht mehr ständisch oder hierarchisch geprägt. Der zwischenmenschliche Umgang wird persönlicher, familiärer, lockerer, das Kommunikationsmittel Handy trägt dazu sehr stark bei. Zwar hat laut Knigge jede volljährige Person ein Recht darauf, mit „Sie“ angesprochen zu werden, jedoch wird das „Du“ immer mehr zur Norm, während man mittlerweile das „Sie“ begründen muss. Die Stringenz traditioneller Titulierung weicht auf. Auch Mama oder Papa, Opa oder Oma heißen dann schon mal Brigitte und Heinz, Günther und Ingrid. Das „Du“ ist nicht nur in Familien und unter Freunden üblich, auch immer mehr Unternehmen wechseln in eine reine „Du“-Kultur. Den Startschuss dafür lieferte Ikea Anfang der 1970er Jahre. Unternehmen möchten jünger, attraktiver, sympathischer, vertrauter wirken und stellen deshalb komplett auf „Du“ um.

Laut Umfragen duzt heute jeder 3. Arbeitnehmer seine Vorgesetzten und Kollegen. Ein „Du“-Privileg sollte in der Arbeitswelt nicht unkritisch selektiv gewährt werden. Vom „Sie“ zum „Du“ ist leichter, als vom „Du“ zum „Sie“ zurück. Es gibt kein einseitiges „Du“, es beruht auf Gegenseitigkeit. Das allgemeine „Du“ alleine ergibt aber noch kein Klima der Wertschätzung. „Du“ schafft Gleichbehandlung, bedeutet aber nicht Gleichwertigkeit. Führungskräfte sollten – trotz „Du“ – durch Kleidung, Themen, Wortwahl Verhalten und Auftreten stets eine rollenkonforme Distanz einhalten. Eine Du-Beziehung im Beruf macht es dem Vorgesetzten oft schwerer, unpopuläre Entscheidungen zu verkünden, denn ein „Du“ suggeriert innige Vertrautheit, fast freundschaftliche, familiäre Bande. Und: Fehlende Distanz kann den respektvollen Umgang erschweren und schnoddrige Verhaltensweisen begünstigen. „Du Arschloch“ geht uns bekanntlich leichter über die Lippen, als „Sie Arschloch“.

Key Takeaway: Die Anrede ist eine Definition der Beziehung zwischen Menschen und drückt Wertschätzung und Respekt aus. Das „Du“ ist eine Währung, die durch inflationären Gebrauch schnell ihren Wert verliert. „Sie“ ist nicht einfach sperrig oder altmodisch, es schafft Distanz, gibt Orientierung, Rollenklarheit und damit auch eine Art von Schutz. „Sie“ trennt Persönliches und Öffentliches, Formales und Informelles. Je ernster der Sachverhalt, z.B. vor Gericht oder in einer Klinik, desto selbstverständlicher ist das „Sie“.

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Ihr

Dr. Stefan Gerhardinger